S. Müller: Über London und Neuseeland nach Eggiwil

Cover
Titel
Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-Bärfuss


Autor(en)
Müller, Simone
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anja Huber, Universität Bern, Historisches Institut

In den 40er- und 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts reisten jährlich 5 000 bis 6 000 junge Schweizerinnen nach Grossbritannien, um dort als Hausangestellte oder Kindermädchen zu arbeiten und Englisch zu lernen. Die jungen Frauen waren als billige Arbeitskräfte beliebt und fanden zumeist schnell eine Anstellung. Die Kulturjournalistin und Übersetzerin Simone Müller recherchierte seit 2012 zu diesem eher unbekannten Kapitel der Schweizer Migrationsgeschichte. Das vorliegende Buch basiert auf Interviews mit Claire Parkes-Bärfuss – einer 101-jährigen, fast gänzlich erblindeten Dame, die sehr viel zu erzählen weiss.

Klara Bärfuss, wie sie ursprünglich hiess, kommt 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zur Welt. Sie wird in eine arme Bauernfamilie aus Zwingen im Laufental hineingeboren. Nach dem frühen Tod des Vaters wird die mittellose, an Tuberkulose erkrankte Mutter von den Behörden dazu gezwungen, ihre Kinder wegzugeben. Klara und zwei ihrer Schwestern werden im Kinderasyl Mariazell in Luzern untergebracht. Die Kosten für die Unterbringung übernimmt die Gemeinde Zwingen. Müller recherchierte in diesem Zusammenhang im Staatsarchiv Luzern und fand Unterlagen, die Auskunft über die Fremdplatzierung der Bärfuss-Mädchen geben. Darin heisst es, die Mutter sei «phlegmatisch» und «unfähig, den vaterlosen, aber kinderreichen Haushalt zu führen». (S. 31)

Die wissbegierige Klara hat im Kinderheim nur sehr beschränkte Ausbildungsmöglichkeiten. Ihr Wunsch, Sprachen zu lernen und eine Lehre als Krankenschwester zu machen, bleibt ihr verwehrt. Mit fünfzehn Jahren tritt Klara 1928 ihre erste Stelle als Haushälterin an. Es sollte die erste von vielen Anstellungen an verschiedenen Orten auf dieser Welt sein. Müller schreibt dazu: «Klara wird ihr Leben lang immer wieder weiterziehen. Wird sich niederlassen, um wieder aufzubrechen.» (S. 29) In den Jahren 1928 bis 1947 arbeitet Klara in verschiedenen Haushalten und Büros in Luzern, Graubünden, im Tessin und Berner Oberland, in Zürich und Genf. Dabei macht sie viele schlechte Erfahrungen: Sie wird von einigen ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern misshandelt, wirtschaftlich ausgebeutet und auch sexuell belästigt. Es gibt aber auch positive Erlebnisse: Klara lernt endlich Sprachen, bildet sich weiter und schliesst Freundschaften. In der Romandie wird Klara dann zu Claire, weil es am Bahnhofbuffet in Genf schon zwei andere Klaras gibt. Obwohl es nicht an Angeboten mangelt, ist Heiraten für Klara nie eine Option. Sesshaft zu werden, kann sie sich nicht vorstellen. Mit 34 Jahren geht Claire 1948 das erste Mal ins Ausland, nach Paris. Als sie von dort zurückkehrt, weiss sie, dass sie wieder weg will. Über ein Zeitungsinserat findet sie eine Stelle in einem Haushalt in London. Auch in England wird Claire ihre Arbeitgeber immer wieder wechseln. Durch Zufall kommt sie einige Jahre nach ihrer Ankunft in den Haushalt eines englischen Adligen. Dort lernt Claire ihren zukünftigen Mann, den Kriegsveteranen Stanley Parkes, kennen. Er ist von seinem Einsatz in Korea traumatisiert und leidet an wiederkehrenden Malariaschüben. Die beiden heiraten im Juli 1955. Sie, die eigentlich nicht heiraten wollte, meint dazu: «Krankenschwester oder Lehrerin konnte ich ja nicht mehr werden, und nach Afrika gehen auch nicht. Und schliesslich, ich musste doch einmal irgendwo ein Heim haben.» (S. 104) Stanley leidet nach der Hochzeit zunehmend an Malariaschüben. Der Arzt rät zu einem Klimawechsel und eine Bekannte von Claire weiss von guten Verdienstmöglichkeiten in Neuseeland. So stechen Claire und Stanley im Januar 1956 von Liverpool aus in See. Die Zeit auf der Insel im Pazifik ist für beide grundsätzlich eine glückliche. Sie finden eine Anstellung in der Tiefkühlfabrik des Unilever-Konzerns, häufen ein kleines Vermögen an und kaufen sich ein eigenes Haus. Claire kann sich das erste Mal seit langer Zeit vorstellen zu bleiben, doch Stanley zieht es zurück nach London. So verlassen sie Neuseeland Ende 1964 wieder in Richtung Europa. 1985 stirbt Stanley und Claire lebt fortan allein in London. Sie bleibt das erste Mal in ihrem Leben zwanzig Jahre am selben Ort, in einer Alterswohnung in Queenswood. 2006 bricht sie nochmals auf, geht zurück in die Schweiz, in ihren Heimatort Eggiwil, wo sie zuvor noch nie war. Nach einem weiteren Abstecher nach London kommt Claire 2013 wieder in ihren Heimatort zurück, sie wird im selben Jahr 100 Jahre alt. Dazu sagt sie: «Das war jetzt meine letzte Reise.» Dann korrigiert sie sich: «Nein, die zweitletzte, die letzte kommt noch.» (S. 190) Claires Leben war geprägt von ständigen Orts- und Stellenwechseln und der Sehnsucht nach einem Zuhause. Müller lässt in diesem Buch vor allem die Protagonistin sprechen, welche ihre Geschichte mit einer unglaublichen Detailtreue erzählt. Die abgedruckten Fotografien, Briefe und Notizen verdichten das Bild zusätzlich. Die Autorin ergänzt ab und an mit wertvollen Informationen zum historischen Kontext oder eigenen Recherchen. Allerdings gibt es auch Stellen im Buch, in welche die Autorin etwas gar interpretativ eingreift und der Protagonistin bestimmte Gefühlsregungen zuschreibt, gerade wenn es um die Rolle der Mutter geht. So schliesst Müller ein Kapitel über gestohlene Bananen, in dem sich Claire an einen Ausspruch der Mutter erinnert (es kommt immer heraus, wenn du lügst), mit folgenden Worten ab: «Klara, Claire, trägt nicht nur den Schmerz mit sich, sie hat die Mutter auch verinnerlicht.» (S. 31)

Lesenswert ist das Buch aber unbedingt. Es zeichnet ein Stück (Migrations-)Geschichte des 20. Jahrhunderts nach: Claire erlebt zwei Weltkriege, reist als Haushaltshilfe nach England, heiratet dort einen englischen Kriegsveteranen, wandert mit diesem nach Neuseeland aus und verbringt ihren Lebensabend schliesslich in ihrem Heimatort Eggiwil – «über London und Neuseeland nach Eggiwil».

Zitierweise:
Anja Huber: Rezension zu: Müller, Simone: Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-Bärfuss. Baden: hier und jetzt 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 3, 2016, S. 72-74.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 3, 2016, S. 72-74.

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